Blasius Merrem als Reformer der Systematik der Amphibien und Reptilien – von der Linnéschen Klassifikation zu einem „natürlichen System“

Blasius Merrem als Reformer der Systematik der Amphibien und Reptilien – von der Linnéschen Klassifikation zu einem „natürlichen System“

Von Hans Wilhelm Bohle & Sven Mecke, Marburg

Zusammenfassung

Blasius Merrem (1761-1824) gehört zu den frühen Reformern der Wirbeltier-Systematik. Bereits während seines Studiums an der Universität Göttingen seit 1778 entwickelte er Entwürfe zur Neuordnung des Systems der Nagetiere und wenig später der Vögel. Die Arbeiten an den Amphibien und Reptilien (damals noch im Taxon „Amphibia“ L., 1758 vereint) begannen nach 1784, als er eine Professur an der Universität Duisburg angetreten hatte und Zugang zu ansehnlichen herpetologischen Sammlungen erhielt. In einem ersten Schritt reformierte Merrem die Methodik der Schlangendarstellung und Beschreibung in Text und Bild am Beispiel von „neuen“ oder unzureichend bekannten Arten, um eine verlässliche Grundlage für die Taxonomie zu gewinnen. Die Ergebnisse dieser Studien wurden in den „Beytrae-ge[n] zur Naturgeschichte” (1790 a, b; 1821, dann als „Beitraege“) veröffentlicht. Das übergeordnete, nächste Ziel war es jedoch, eine neue Großsystema-tik für die weitere Untergliederung der „Amphibien“ zu entwickeln. Diese sollte das traditionelle und überall verwendete, auf Carl von Linné (1707- 1778)
zurückgehende, „künstliche“ durch ein „natürliches System“ ersetzen: Statt auf wenige, überschaubare und markante äußere Kennzeichen zu bauen, sollte in einer Art ganzheitlicher Betrachtung ein weites Spektrum der äußeren und inneren Körperstrukturen überprüft und bewertet werden. Um das Jahr 1800 formulierte Merrem wahrscheinlich bereits sein Konzept für ein „natürliches System” der „Amphibien”, das im Rahmen der von Johann Matthäus Bechstein (1757-1822) erweiterten, deutschsprachigen Ausgabe von Bernard Germain Étienne Lacépèdes (1765-1825) „Histoire naturelle des quadrupèdes ovipares et des serpens” (1788-1790) veröffentlicht werden sollte. Bevor es dazu kam, wurde die Fortsetzung dieses Projekts eingestellt, so dass das Resultat erst 1820 im „Versuch eines Systems der Amphibien” erschien, das darüber hinaus eine Grundlage zur Bestimmung der zu jener Zeit bekannten Amphibien („Batrachia“) und Reptilien („Pholidota“) enthielt, die erstmals von Merrem als eigenständi-ge Klassen aufgefasst worden sind. Merrems „natürliches System” für die jetzt getrennten Klassen der Amphibien und Reptilien konkurrierte zu seiner Zeit mit anderen Systemen, wie denen von Johann Fried-rich Blumenbach (1752-1840) und Georges Cuv-ier (1769-1832), die bevorzugt funktionale äußere Strukturen für ihre Gruppierungen verwendeten. Merrem verglich hingegen für seine Großgruppierungen vorwiegend die Differenzierung innerer, anatomischer Strukturen ohne primär dem Kriterium ähnlicher funktionsbedingter Strukturen zu folgen. Merrems Vorschläge zur Systematik der Amphibien und Reptilien wurden schon zu seinen Lebzeiten registriert, erfuhren auch Anerkennung, konnten sich jedoch lange Zeit gegenüber der Dominanz der Sys-teme von Cuvier u. a. nicht durchsetzen.

Summary

Blasius Merrem (1761-1824) was one of the early reformers of the vertebrate system. While still a student at the University of Göttingen (since 1778), he developed concepts for reclassifying rodents and birds. Merrem’s studies on amphibians and reptiles (the latter included in the taxon “Amphibia” L., 1758 at that time) began after 1784, when he was awarded a professorship at the University of Duisburg, where he had access to large herpetological collections. As a first step, Merrem reformed the method of depict-ing and describing snakes through the example of “new” or poorly known species. The results of these scientific studies were published in the „Beytraege zur Naturgeschichte” [Contributions to Natural His-tory; 1790 a, b; 1821]. The primary and overreaching objective, however, was to develop and establish major subdivisions within the “amphibians.” This new “natural system” was aimed to replace the tradition-al and typically used “artificial” system as proposed by Carl von Linné (1707-1778). Rather than using only a few specific, outstanding eidonomic features, for the classification within this new integrated sys-tem a wide range of eidonomic and anatomical char-acters were to be examined and reviewed. Merrem may have already put his concept of a “natural system of the amphibians” into words around 1800, which was supposed to be published in Johann Matthäus Bechstein’s (1757-1822) extended German edition of Bernard Germain Étienne Lacépède’s (1765-1825) „Histoire naturelle des quadrupèdes ovipares et des serpens” [Natural History of the Quadrupedal Oviparous Animals and Snakes; 1788-1790]. Before this could happen, the sequel of Bechstein’s book project was cancelled by the publisher. The results of Merrem’s research were only published in 1820 in his „Versuch eines Systems der Amphibien” [Attempt of a System of the Amphibians], which not only included a new classification but also keys for the identification of the amphibians and reptiles known at that time. Merrem was the first author to separate the reptiles (“Pholidota”) from the amphib-ians (“Batrachia”). His system conflicted with those by others, including the ones by Johann Friedrich Blumenbach (1752-1840) and Georges Cuvier (1769-1832), who predominantly used functional eidonomic structures for their classifications. For his higher-level classification Merrem mainly compared the differentiation of anatomical structures instead of using function-related characteristics. His proposal for a new classification of the amphibians and reptiles, though receiving some recognition during his lifetime, was only partly accepted, with the classification systems of Cuvier and others, dominating systematics for a long period.