Der Axolotl und die Wissenschaft – eine „Entwicklungsgeschichte“
Von Joachim Wistuba, Bielefeld
Zusammenfassung
Der Axolotl (Ambystoma mexicanum (Shaw & Nodder, 1798)) ist für die Wissenschaft einer der am besten untersuchten Modellorganismen. Seit seiner Einführung nach Europa in der Mitte des 19. Jahrhunderts hat dieser neotene mexikanische Querzahnmolch viele Forscher fasziniert. Ihre wissenschaftliche Karriere verdankt diese Urodelenart wohl den Tatsachen, dass ihre durchgängig aquatische Lebensweise, ihre relativ einfache erfolgreiche Vermehrung unter Gefangenschaftsbedingungen und auch ihre Ernährung mit leicht zu beschaffenden Futtersorten sie zu einem gut händelbaren Modell macht. Während diese Tierart im Laufe ihrer Entwicklungsgeschichte der zunehmenden Austrocknung ihres Lebensraumes noch durch die Entwicklung vermehrungsfähiger neotener Dauerlarven begegnen konnte, führte die Begegnung mit der menschlichen Zivilisation zum Aussterben, da das Verbreitungsgebiet im mexikanischen Hochland durch die wachsende Metropole Mexico City weitgehend vernichtet wurde.
Somit stellen die in Forschungsinstituten und bei privaten Haltern vorhandenen Tiere wohl den gesamten Weltbestand der Art dar, die dadurch vom Aussterben verschont bleiben dürfte. Die neotene Arretierung der Tiere hat Wissenschaftler seit jeher fasziniert, daher war der Axolotl in den letzten 150 Jahren, in denen sich die Biowissenschaften rasant entwickelten, immer wieder aufs Neue Untersuchungsobjekt: in der Entwicklungsmechanik, in der Endokrinologie, bei der Zellkerntransplantation, in der Genetik, in der Proteomik oder in der Stammzel-lenforschung. Die Fähigkeit zur Regeneration von Organen oder ganzer Extremitäten nach Verletzung oder Erkrankung ist ein alter Menschheitstraum, der allerdings auch in Zeiten der Stammzellforschung nach wie vor unerfüllt geblieben, im Tierreich jedoch Realität geworden ist. So wird derzeit untersucht, wie der Axolotl die dafür nötigen Stammzellen rekrutiert und ob auch innere Organe, wie z.B. die Keimdrüsen, nach Verletzungen regeneriert werden können. Dabei zeichnet sich ab, dass solche Organe, die der beim Axolotl im Zuge evolutiver Anpassung entstandenen Teilmetamorphose unterliegen, ein deutlich schlechteres Regenerationspotential haben als solche, die aufgrund der arttypischen Neotenie larval bleiben. Dieser Artikel zeichnet die Geschichte des Axolotls als Modellorganismus für die Wissenschaft nach und zeigt auf, in welchem Umfang die Forschung von Ambystoma mexicanum bereits gelernt hat und aufgrund seiner besonderen Eigenschaften sicher auch weiterhin lernen wird.
Summary
The Axolotl and the sciences – a „history of development“: The Axolotl (Ambystoma mexicanum (Shaw & Nodder, 1798)) is one of the best, most established model organisms used in biological and medical research today. Since its introduction to Europe in the mid 19th century, this Mexican neotenic ambystomatid salamander has been the source of fascination and inspiration to generations of scientists. The newt’s remarkable scientific „career“ has been driven by its abilities to stay permanently aquatic, to bred readily and easily in captivity and their acceptance of a broad „easy to obtain“ spectrum of food. During its phylogenetic history, the species has managed to escape the potentially fatal consequences of the dry environmental conditions resulting from the tectonic changes, by adapting a neotenic form. However, no evasive adaptation could save it, once the animals’ natural habitat, the Mexican highlands, was overgrown by the rapidly sprawling metropolis of Mexico City. Brought to the cusp of extinction by civilisation’s environmental ravages, the animals’ survival is now completely dependent on human intercession as the entire population is kept in captivity, be it by universities or in the tanks of private individuals. Over the passed 150 years, the neotenic capacity of these newts has provided the impetus and means for pioneering studies in developmental dynamics, endocrinology, genetics, cloning, proteomics and regenerative medicine. The ability to regenerate organs or entire limbs is a longstanding dream of mankind, a dream that forms much of the stimulus behind the very modern interest in stem cell research. Still far from actuality in humans, limb regeneration is a reality for axolotls and as such has placed the animals in the vanguard of research into the recruitment, differentiation and transformation of stem cells. In contrast, the inner organs of the axolotl are unable to regenerate, a finding that has fuelled the current hypothesis that in tissue systems that undergo partial metamorphosis as a result of evolutionary adaptation, neoteny stifles the ability to regenerate compared to the larval form where it is facilitated.
This article charts the history of the axolotl as a model organism for research and chronicles the extraordinary contribution of Ambystoma mexicanum to scientific progress.